Das Gefühl begann schleichend. Müde und leicht niedergeschlagen wachte ich Sonntagmittags auf. Eigentlich nicht so erstaunlich, weil es in der Nacht vorher ziemlich spät wurde. Trotzdem stehe ich auf, um wenigstens etwas zu tun. Ich beginne mein Zimmer zu putzen, mache mir etwas zu Essen und dusche mich. Das lässt mich ein bisschen besser fühlen. Der starke Regen zieht meine Stimmung aber ziemlich herunter. Gerade ist ein Taifun im Anmarsch auf Südkorea. Der Himmel weint also mit mir oder vielleicht auch ich mit dem Himmel.
Ich lege mich mit der neusten Staffel Never Have I Ever ins Bett und versuche meine Stimmung mit Netflix zu heben. Aber ich vermisse meine gewohnte Umgebung. Ich vermisse, dass ich irgendwo hin kann ohne ständig auf eine Karte schauen zu müssen. Ich vermisse meine Liebsten. Ich vermisse es, mit Menschen zusammen sein, die mich so kennen, wie ich bin. Menschen, bei denen ich mich nicht um einen möglichst guten Eindruck bemühen muss, sondern die mich lieben wie ich bin. Ich vermisse, dass Zuhause alles sauber ist, die Küche aufgeräumt ist, die Waschmaschine richtig wäscht. Ich vermisse, dass ich mir keine Gedanken darum machen muss, was ich Essen oder Kochen könnte, ohne meine moralischen Prinzipien oder meine Gesundheit über Bord zu werfen. Ich vermisse mein grosses Bett und mein helles Zimmer (durch das kleine Fenster hier sehe ich das nächste Gebäude und während es regnet ist mein Zimmer besonders dunkel). Ich vermisse meine Komfortzone.
Während der Regen an mein Fenster prasselt, fragen meine Eltern, ob ich einen Moment Zeit hätte zum telefonieren. Obwohl ich mich darüber freue, fliessen bei mir gleich Tränen, nachdem ich nach meinem Wohlbefinden gefragt werde. Es ist nicht, dass es mir nicht gefällt hier oder es mir nicht gut geht hier - aber ich bin traurig darüber nicht bei ihnen sein zu können. Das Telefonat tut trotzdem gut. Sie haben sich schon Flüge angeschaut, um mich an Weihnachten zu besuchen. Das muntert mich unglaublich auf.
Als wir noch am sprechen sind, ruft schon Sara an. Wir haben uns vor meinem Abendprogramm verabredet zum telefonieren, worauf ich mich schon den ganzen Tag freue. Ich kann aber nicht richtig in Worte fassen, wie ich mich gerade fühle. Eigentlich geht es mir gut hier. Und gleichzeitig möchte ich nicht, dass sich jemand Sorgen um mich macht. Ich bin aber begeistert von allem und geniesse die Zeit hier. Es ist besser, wie ich es mir überhaupt je hätte vorstellen können. Trotzdem ist alles so ungewohnt, und deshalb manchmal ziemlich anstrengend. In meinem Kopf herrscht Sturm, sowie draussen auch.
Am Abend steht eine Cheering-Übungsstunde für ein Sportevent im Oktober auf dem Programm. Ich zwinge mich selbst trotz des Sturms an die Übungsstunde zu gehen, mit dem Gedanken, dass Bewegung und soziale Interaktion mir gut tun werden. Tut es auch, aber nachher bin ich so ausgelaugt, dass ich mit niemandem mehr sprechen möchte - wenn ich heute nochmal mit irgendjemandem ein Gespräch führen muss, beginne ich gleich wieder zu heulen. Durch den strömenden Regen laufe ich zurück in meinem Zimmer, wo ich es mir gemütlich mache und versuche mit meinen Gefühlen zu sein.
Mir ist bewusst, dass diese Gefühle normal sind und es okay ist, dass ich mich so fühle. Ich lasse es deshalb zu, traurig zu sein. Mir ist auch bewusst, dass die Gefühle vorbei gehen und versuche mich deshalb nicht daran aufzuhängen. Ich kann eine gute Zeit hier verbringen und trotzdem manchmal Traurigkeit fühlen. Auch diese Gefühle dürfen Raum haben.
Und vielleicht bringt das Aufhellen des Wetters eine Aufhellung meiner Stimmung mit sich. Vielleicht bringt Sonnenschein, nach der Schwere des Regens, wieder eine bisschen mehr Leichtigkeit mit sich. Und der Unialltag einen normalen und vielleicht sogar gewohnten Rhythmus, der eine gewisse Normalität mit sich bringt.
Mit diesen Gedanken erreiche ich am Montagnachmittag aber doch den absoluten Tiefpunkt meines Tiefs, während der Sturm draussen sein Hoch hat. Der Gedanke, meine Familie und Freunde für die nächsten paar Monate nicht sehen zu können, schmerzt. Erst jetzt beginne ich zu realisieren, dass ich wirklich weg bin - sehr weit weg - und das für die nächsten paar Monate, ohne die Möglichkeit mal kurz nachhause zu können oder meine Liebsten zu sehen.
Aber glücklicherweise meldet sich Marcel gerade in diesem Moment via Facetime bei mir und meine Stimmung beginnt sich wieder zu heben. Wir fühlen uns gerade beide ein bisschen alleine, was verbindet. Nach dem Gespräch fühle ich mich wieder bereit unter andere Menschen zu gehen. Ich weiss, dass es wichtig ist, mich nicht zu isolieren hier. Deshalb gehe ich runter in die Küche und helfe Essen für Liesje’s Geburtstag vorzubereiten. Der Abend ist gut. Das Essen ist sogar sehr gut. Das Wetter lichtet sich. Ich fühle mich wieder besser und bin bereit den Rest der Woche in Angriff zu nehmen.